Warum tut jemand so etwas? Die Motivation von Sexualstraftätern

Wenn ein Sexualdelikt in den Fokus der Öffentlich gerät, scheinen alle immer genau zu wissen, warum der Täter das, was ihm vorgeworfen wird, getan hat: Wenn er nicht krank ist, dann ist er jedenfalls völlig triebgesteuert, konnte seinen Sexualtrieb nicht beherrschen. Auf diese Weise entstehen die Schlagzeilen der Boulevardpresse vom "Sex-Monster", das seinem Trieb ungehemmten Lauf lässt. Da jedoch bereits die nicht strafrechtlich relevante menschliche Sexualität von zahlreichen Alltagstheorien und Mythen durchdrungen ist, finden sich diese auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Motivation von Sexualstraftätern.

Bei diesem so genannten Triebmodell kommt die Vorstellung zum Ausdruck, ein Sexualstraftäter sei ein Mensch, der von seinen besonders ausgeprägten und immer wieder unkontrolliert durchbrechenden Trieben beherrscht wird. Dabei wird unterstellt, sexuelles Verhalten sei im Wesentlichen biologisch gesteuert bzw. angeboren. Der natürliche Sexualtrieb bestimme, wie, wodurch, wie stark und wie oft
ein Mensch sexuell erregt werde und auch, wie er auf die Erregung reagiere.

Dieses leicht nachvollziehbare und ziemlich wissenschaftlich klingende Modell hat einen großen Vorteil: Man heftet, so Diplompsychologe Arnold Wieczorek vom LKA Baden-Württemberg, dem Triebbegriff ein Prädikat an – zum Beispiel gestört, krankhaft, pervers usw. - und ist ohne viel Aufwand im Besitz einer befriedigenden Erklärung für vergleichsweise komplizierte Vorgänge. Der Sexualtäter ist ein "Triebtäter", dessen Taten auf seinen kranken, perversen oder sonst wie gestörten Trieb zurück zu führen sind. Dabei bleibe, so Wieczorek, völlig unberücksichtigt, dass sexuelles Verhalten nur zum Teil ein biologisch oder organisch gesteuerter Prozess ist. Zwar schaffen biologische, insbesondere hormonelle Prozesse die Voraussetzungen dafür, dass ein Individuum sexuell erregbar ist. Gleichzeitig spielen beim Sexualverhalten aber immer auch Vorgänge auf der psychischen Ebene eine Rolle, zum einen auf der kognitiven Ebene (Wahrnehmungen, Gedanken, Erwartungen), zum anderen auf der emotionalen Ebene (Stimmung, Selbstwerterleben).

Diese Sichtweise auf die Sexualität begann erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Angeregt durch Freuds Abhandlungen zur Sexualität ging man dazu über, die Funktion der Sexualität im psychischen System zu betrachten. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass in das sexuelle Begehren sehr verschiedene Bedürfnisse eingeflochten sein können:

  • der Wunsch, Einsamkeit zu überwinden
  • Bedürfnisse nach Fürsorge und Versorgung
  • das Bedürfnis nach Geborgenheit
  • die Suche nach Bewunderung
  • der Ausdruck von Ärger
  • die Demonstration und das Auskosten von Macht
  • das Bedürfnis, jemanden zu demütigen
  • das Bedürfnis, einen bestimmten sozialen Status zu demonstrieren
  • das Bedürfnis, einen bestimmten Lebensstil zu verwirklichen

Ein Beispiel: Ein Mann, der mit einer Frau sexuelle Handlungen durchführt, tut dies unter Umständen aus mehreren Gründen. Vielleicht liebt er diese Frau; vielleicht will er wissen, welche Chancen er hat und als wie attraktiv er empfunden wird; vielleicht ist er der Auffassung, er sei nur dann ein ganzer Mann, wenn er oft und regelmäßig mit verschiedenen Frauen Sex habe (das wären wirksame kognitive Prozesse); vielleicht braucht er aber auch ein Genugtuungsgefühl gegenüber seiner Exfreundin,
die ihn wegen eines anderen verlassen hat (dies wären wirksame emotionale Prozesse) – man kann aber auch einfach sagen, er handle "zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs", wie es das Strafgesetzbuch es etwa in § 211 StGB tut. Die Aussage zur tatsächlichen Motivation wäre durch diese Formulierung allerdings stark vereinfacht und grob verzerrt.

Dadurch wird deutlich, dass das triebtheoretische Modell nicht geeignet ist, die Motivation eines Sexualstraftäters näher zu verdeutlichen. Besser geeignet ist eine Synthese aus tiefenpsychologischem und lerntheoretischem Modell. Dadurch wird einerseits die Komponente möglicher wirksamer Konfliktspannungen des Täters, die psychodynamisch sexualisiert werden, erfasst, andererseits aber auch die Prägung und Konditionierung sexueller Erregungsmuster, die Stereotypisierung in der Wahrnehmung potenzieller Sexualobjekte und die Aneignung und Pflege eventuell deliktbegünstigender Fantasien. Dieses Modell vertritt etwa Wieczorek als taugliches
Erklärungsmodell für die Motivationsanalyse bei Sexualtätern.

Dessen Mehrwert besteht – neben der von Wieczorek propagierten Nutzung im Bereich von Täterprofilen – auch und ganz wesentlich in der Erkenntnisgewinnung zum Zwecke einer richtigen Behandlung eines so straffällig Gewordenen. Denn eine Reduzierung allein auf den übermächtigen Sexualtrieb korrespondiert lediglich mit der Forderung "Schwanz ab" des Boulevards. Eine Behandlung sei ja ohnehin nicht möglich, es sei denn man dämme den Sexualtrieb entsprechend ein, etwa durch
triebdämpfende Medikation. Die richtige, differenzierte Betrachtungsweise jedoch zeigt, dass die Behandlung von Sexualstraftätern an zahlreichen ganz anderen Stellen anzusetzen hat und erfolgreich ansetzen kann. Somit ist auch ein Sexualstraftäter nicht unrettbar verloren für eine Resozialisierung, wie es bedauerlicherweise zum Teil selbst aus höchsten politischen Kreisen zu hören ist. Bei richtiger Analyse seiner Motivation und entsprechender psychotherapeutischer Behandlung kann er in der Tat
wieder zu einem Teil der Gesellschaft werden – vorausgesetzt, diese gibt sich über ihre Einrichtungen der Strafrechtspflege und des Strafvollzuges genügend Mühe, dieses Ziel zu erreichen. Isolieren und Wegsperren ist nach den dargestellten Ergebnissen in aller Regel ganz sicher die falsche Wahl.

 

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