"Wir sind Rechtsstaat", wirbt das Bundesjustizministerium - und demontiert ihn mit Fleiß!

 

Es ist für alle Praktiker im Strafrecht ein schier nicht fassbares Ärgernis, was derzeit im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) vorbereitet wird. Schon im Frühsommer - damals noch unter Katharina Barley - wurden die sog. "Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens" bekannt. Seit August gibt es einen entsprechenden Referentenentwurf, der immer noch von "Modernisierung des Strafverfahrens" spricht, aber vor allen Dingen Beschuldigtenrechte opfert.

Die moderne Welt, in der wir leben, ist geprägt von der jederzeitigen Verfügbarkeit von Informationen, deren Speicherung und Verbreitung leicht, billig und für jedermann zu haben ist. Doch bei der Strafjustiz wartet man auf die Einführung einer digitalen Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und vor allem der Hauptverhandlung noch immer vergeblich. Deutschland ist in dieser Hinsicht das absolute europäische Schlusslicht - nur in Belgien werden Strafverfahren derart vorsintflutlich bei uns durchgeführt. Zur Erinnerung: Vor dem Landgericht, wo die schwersten Straftaten abgeurteilt werden, existieren keine Aufzeichnungen über den Inhalt von Zeugenaussagen oder die Äußerungen des Beschuldigten oder sonstiger Verfahrensbeteiligter. Das ist einem Laien kaum begreiflich zu machen, zumal es weder schwierig noch teuer wäre, eine Audio-Dokumentation jeder Hauptverhandlung einzuführen. Das geben selbst die Gegner einer solchen Regelung zu - wie zuletzt beim Anwaltstag der Metropolregion Rhein-Neckar in Mannheim 2018 zu erfahren war.

Stattdessen kürt man - welch Überraschung - den Verteidiger als Schuldigen für die Verzögerung von Verfahren. Dabei hat das Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg bereits vor knapp 20 Jahren in einer groß angelegten Studie herausgefunden, dass diese These falsch ist. Sie haben von dieser Studie noch nichts gehört? Ich auch kaum noch etwas, seitdem ich an ihr mitgearbeitet habe. Offensichtlich verschwand sie still und heimlich in der Schublade des Auftraggebers - des BMVJ! Damals gehörte ich zu einem Heer von wissenschaftlichen Hilfskräften, die umzugskartonweise Akten aus landgerichtlichen Verfahren anhand eines extrem umfangreichen Fragebogens daraufhin analysiert haben, wo und warum während eines Verfahrens Zeit verloren geht. Ja, wir haben Tage gezählt, und auch Anträge der Verteidigung, und die Zeit bis zu ihrer Bescheidung. Und das - übrigens völlig eindeutige - Ergebnis war: An der Verteidigung liegt es nicht! Viel eher ließ sich sogar sagen, dass eine aktive Verteidigung das Verfahren sogar förderte und beschleunigte. Vielleicht sollte man diese Studie noch einmal aus der Schublade holen, in die man es gelegt hat, bevor man folgende, jetzt geplante (und hier nicht abschließend aufgezählte) Maßnahmen ergreift:

- Die Telekommunikationsüberwachung soll auf Ermittlungsverfahren wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls ausgeweitet werden. Angesichts der Tatsache, dass diese Straftaten nach der letzten PKS (Polizeiliche Kriminalstatistik) um mehr als 16% zurückgegangen sind, halte ich das für unverhältnismäßig.

- Das Recht des Beschuldigten, eine Justizperson wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, soll beschränkt werden. Ja - jeder kennt die Verfahren, in denen es wahre Orgien von Befangenheitsanträgen gibt. Aber hat sich jemand schon einmal die Mühe gemacht, sich diese im Einzelnen anzusehen? Es mag da auch Missbrauch geben - aber das ist gar nicht die Begründung des BMVJ. Vielmehr soll die Beschränkung erfolgen, weil diese Anträge so selten erfolgreich sind. Woran das wohl liegen mag …

- Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten soll weiter eingeschränkt werden. Mit anderen Worten: Die einzige Möglichkeit, mit der das Subjekt des Verfahrens, die Hauptfigur, überhaupt Einfluss auf den Gang der Beweisaufnahme nehmen kann, soll noch mehr Beschränkung erfahren. Man fragt sich, wie sonst dem Beschuldigten günstige Umstände künftig in das Verfahren gelangen sollen … ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

- Die Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung sollen ausgeweitet werden, damit künftig Hauptverhandlungen bis zu zwei Monaten unterbrochen werden können, wenn Mutterschutz und Elternzeit dies erfordern. Ich erinnere mich mit kaltem Grausen an ein Verfahren vor dem Amtsgericht K., wo die Vorsitzende einer Kollegin von mir, die ihr Kind pünktlich aus der Kita holen musste und deswegen Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragte, kühl entgegnete, darauf könne sie keine Rücksicht nehmen, alle hier Beteiligten müssten sich auf berufliche Anforderungen einrichten, und schließlich sei das ganz und gar ihr Problem und nicht das des Gerichts.

- Eine Dokumentation der Hauptverhandlung wird es nicht geben, aber Bild-Ton-Aufzeichnungen von Zeugenvernehmungen aus dem Ermittlungsverfahren sollen in der Hauptverhandlung statt einer Vernehmung des Zeugen vorgespielt werden können. Es geht eben genau da, wo man es will.

Wer bis hierhin gelesen hat, spürt wie zornig ich bin! Unter dem Slogan "Wir sind Rechtsstaat" eine solche Demontage eben dessen abzuziehen, was Rechtsstaat ausmacht - dass der Schwächere durch entsprechende Rechte dem Stärkeren gleichgestellt wird - das ist unsittlich!
Es ist empörend!
Es ist beschämend!